„Nur aus Fehlern lernst du.“
Herr Steinacher, Sie haben im Segelsport fast alles Zu-Gewinnende gewonnen, Ihren ersten Olympiasieg landeten Sie im Jahr 2000 in Sydney. Skizzieren Sie uns bitte den Weg zu Ihrer Goldmedaille.
Segeln ist eine technische Sportart, in der man Topleistungen sicher nicht als 18-Jähriger erzielt, sondern Ende 20, Mitte 30. So war das auch bei mir, wobei ich spätberufen erst im Alter von 16 in den Sport eingestiegen bin. Davor war ich Schirennläufer, wovon ich mental und körperlich profitiert habe. Das war mitausschlaggebend für das schnelle Erreichen eines hohen Niveaus und meine Dynamik an Bord: Wir haben einen ganz neuen Stil kreiert, wie man ein Segelboot segelt.
Wenn Sie „technische Sportart“ sagen, meinen Sie die erforderliche sportliche Exzellenz oder ganz wörtlich eine Technologielastigkeit dieses Sports?
Neben der Technik, wie man segelt, meine ich tatsächlich das Verständnis des Seglers dafür, womit er segelt. Im Motorsport schaltet man den Antrieb ein und hat schlagartig zig PS zur Verfügung. Bei uns gibt es keinen Motor. Wir müssen die Leistung aus den Segeln holen, denn sie und der Wind sind das Einzige, was uns vorantreibt. Jeder Segler muss das Segel also von Grund auf kennen: Nur mit einem tiefen Verständnis für Material und Technik kann er das „Set-up“ so maßschneidern, dass es seinen individuellen Segelstil unterstützt. Dieses Know-how muss man sich über Jahre hart erarbeiten.
Benötigt man für Spitzenleistungen also nicht nur ein sportliches, sondern auch ein technisches Talent?
Ich denke, es braucht ein technisches Grundverständnis und die Liebe zur Sache: Du stehst ja wirklich Tage und Wochen neben dem Segelmacher in der Werkstatt und entwickelst deine Ausrüstung mit. Zuerst muss man begreifen, welche technologischen Möglichkeiten es überhaupt gibt und was sie bewirken. Entscheidend ist, ob und wie man die Technik aus der Werft auf das Wasser bekommt. Denn ich als Segler bin ja letztendlich verantwortlich und muss an Bord entscheiden: War diese Entwicklungsentscheidung gut oder nicht?
Geben Sie uns bitte Beispiele dafür, was Technologien verändert haben?
Früher war jeder Mast aus Aluminium, heute gibt es nur mehr Kohlefaser. Carbon ist nicht nur idealer und leichter, sondern eröffnet unendlich viele neue Produktionsvarianten. Das geht bis ins Detail des Laminats bis hin zur Richtung, in die die Beschichtung verläuft. Angesichts dieser Komplexität ist es eine große Kunst, den Entwicklungsprozess so zu strukturieren, dass man das Ziel nicht aus den Augen verliert.
Ein weiteres Beispiel ist die Simulationstechnologie im Zuge der Digitalisierung: Ähnlich wie in der Formel 1 haben wir Segler einen riesigen Simulationsraum, wo das gesamte Boot in allen Komponenten simuliert wird. Erst wenn wir Entwicklungen gründlich virtuell ausgetestet haben, bringen wir sie aufs Wasser, sonst würden viel zu lang brauchen. Jeder Teil muss eine virtuelle Vorausscheidung passieren, um es in die Praxis zu schaffen. Die Technologie beschleunigt ihre eigene Entwicklung.
Was haben Sie die Veränderungen über die Jahre gelehrt?
Der wichtigste Punkt, den man verinnerlichen muss, ist: Alles entwickelt sich ständig weiter. Die Materialien werden besser und leichter, es kommt mehr Elektronik dazu. Die Technologie steigt wie die Spitze eines Eisberges immer höher, dabei wird der Grat aber schmäler. Das heißt, man muss sehr genau analysieren, ob man noch auf einem guten Weg oder irgendwo falsch abgebogen ist. Nicht jeder Schritt geht nach vorne, sondern meist nur einer. Danach macht man zwei oder drei Kleinere zurück. Genau aus diesen Zwei muss man so viel lernen, dass der nächste Vorwärtsschritt größer wird, an Spannweite gewinnt.
Fehler sind also die Basis jeder Entwicklung?
Exakt. Fehleranalyse ist das Um und Auf, nur so lernen wir leicht. Du darfst jeden Fehler wirklich nur ein einziges Mal machen und niemals ein zweites Mal, denn sonst verlierst du wertvolle Zeit. Aus Erfolgen zu lernen ist schwierig: Bei exzellenten Turns bist du im „Flow“, alles funktioniert. Im Nachhinein rational zu analysieren, wie und was genau glatt lief, ist kaum möglich. Aus den Erfolgen nimmt man also am besten das Gefühl mit, das Mentale und Emotionale: Man lernt, wie locker man mit Dingen umgehen kann und Störendes ausklammert.
Ist Hochleistungssegeln heute ein interdisziplinärer Mannschaftssport?
So in etwa. Weil es die Expertise von immer mehr Menschen braucht, muss man ein Teamplayer sein. Die Teams werden größer und einzelne Mitglieder sind sorgfältig ausgewählt, damit die Mannschaft homogen arbeitet. Alle müssen am gleichen Strang ziehen, dasselbe Ziel vor Augen haben.
Wir arbeiten sehr ähnlich wie das Red-Bull-Formel-1-Team: Dort ist Christian Horner der Chef, aber Einfluss nehmen viele Leute wie Helmut Marko oder Adrian Newey. Max Verstappen spielt als Fahrer eine sehr wichtige Rolle: Er sagt, wie sich das Auto verhält und was verändert werden muss. Christian Horner entscheidet dann, an wen er diese Information weiterleitet. Entweder er geht zum Techniker und sagt, wir brauchen ein neues Chassis. Oder er geht zum Designer, der für die Aerodynamik verantwortlich ist, und sagt, wir brauchen einen neuen Frontflügel. Die große Verantwortung und Kunst des Teamchefs ist es also, die richtigen Maßnahmen in die Wege zu leiten. Inzwischen müssen die Teammitglieder einander und dem Prozess vertrauen; Geduld haben, bis der jeweils Zuständige einen Lösungsvorschlag bringt.
Was kann Ihr hauseigenes Technologiezentrum Red Bull Advanced Technologies?
Das RAT-Center in Milton Keynes (Anm.: 230.000-Einwohner-Stadt im Norden Londons, UK) ist sehr forschungsintensiv und generiert laufend Know-how aus den 180 verschiedenen Sportarten, die wir bei Red Bull betreuen. Wir entwickeln dort also nicht nur Sporttechnologien und Simulationssoftware, sondern setzen auch immer wieder Links und Querverbindungen zu anderen Disziplinen, um voneinander zu lernen. Die Hochtechnologie des Motorsports hat viel mit dem Segeln gemeinsam: die Hydraulik, die Aerodynamik bzw. Hydrodynamik. Die Kompetenz aus der Formel 1 betrachten wir Wassersportler als sehr wertvoll.
Eines Ihrer nächsten großen Projekte ist die Teilnahme am „America’s Cup“ gemeinsam mit dem Yacht-Team Alinghi, hinter dem der Schweizer Biotechnologie-Unternehmer Ernesto Bertarelli steht. Erklären Sie uns die Faszination dieser Segelregatta und die Entscheidung zur sportlichen Joint Venture?
Der America’s Cup ist das legendärste Segel-Event international und die älteste Sport-Trophäe der Welt. Er wird seit dem Jahr 1851 ausgetragen – das ist länger, als es die Olympischen Spiele der Neuzeit gibt. Zugleich gilt der Bewerb als das Formel-1-Rennen des Segelsports. Er ist nicht ein Sportduell, sondern auch ein Technologie- und Designduell. Jede Mannschaft darf viel selbst entwickeln und designen – hier betrachten wir uns als sehr kompetent, speziell mit dem Know-how aus Milton Keyes. Alinghi hat den Cup schon gewonnen und bringt diese Erfahrung ein. Wir sind bisher zwar als Teams gegeneinander gesegelt, haben uns aber speziell im Training immer sehr gut verstanden. Alinghi Red Bull Racing vereint also die perfekten Partner. Wir glauben, wir haben gute Chancen, das Rennen zu gewinnen.
Sie haben schon so viel erreicht und bleiben weiterhin „hungrig“ nach neuen Erfolgen. Warum gelingt Ihnen das so gut? Ist das Ihr spezielles Talent oder ist man irgendwann so verankert im Sport, dass Weiterentwicklung quasi von allein passiert?
Von allein passiert prinzipiell gar nix. Man muss jeden Tag mit viel Herz präsent sein. Segeln ist mein Lebensinhalt. Natürlich wird vieles an mich herangetragen und da schaue halt, wo ich nützlich sein kann oder helfen. Aktuell ist es die Technik des Foilings. Es handelt sich um einen völlig neuen Stil des Segelns, den die Jungen schon ganz früh mit 14 oder 15 Jahren lernen müssen, damit sie später zu den Superstarts gehören können.
Sie sind Mitgründer dieser Red Bull Foiling Generation. Welche Segeltechnik verbirgt sich hinter dem Begriff?
Foiling heißt, dass Boote mittlerweile regelrecht fliegen: Ab einer gewissen Geschwindigkeit hebt sich der gesamte Bootsrumpf aus dem Wasser, um den Widerstand zu verringern. Diese Technik unterscheidet sich grundlegend von derjenigen, die ich vor Jahrzehnten erlernt habe, und verlangt völlig neue Kenntnisse der Aerodynamik. (Anm.: Das Foil ist ein gewölbter Tragflügel unter der Wasseroberfläche, der einen Sog nach oben erzeugt, ähnlich dem Prinzip des Flugzeugflügels in der Luft.). Wir erreichen damit Geschwindigkeiten jenseits der 100 Stundenkilometer. Natürlich wird Sicherheit immer wichtiger: Als Segelanfänger in Schwimmweste hätte ich nie gedacht, dass ich einmal in Helm, Schutzanzug, Rücken- und Schienbeinprotektor am Boot stehe. Und doch ist das heute Alltag bzw. Vorschrift.
Nachwuchsförderung ist also nicht nur Red Bull, sondern auch Ihnen persönlich ein Anliegen?
Der Nachwuchs bildet das Fundament einer jeden Sportart! Seit knapp einem Jahr bin ich Geschäftsführer der Marina Molfalcone (Anm.: italienischer Yachthafen mit 300 Liegeplätzen zwischen Grado und Triest). Wir entwickeln dort eine internationale Red-Bull-Wassersportakademie nach dem Vorbild der Fußball- und Eishockeyakademien in Salzburg. Dazu holen wir junge Talente aus der ganzen Welt nach Italien, die wir trainieren, aufbauen und zu allen wichtigen Wettkämpfen weltweit entsenden. Junge Athleten, die von hinten nach vorn streben und versuchen, die alten Superstars oben vom Thron zu stoßen – genau das ist Sport! Je fester sie anklopfen und je schneller sie die etablierten Player aushebeln, desto dynamischer und attraktiver ist der Sport.