„Der Kuchen wird größer. Wäre das nicht das Beste, was uns passieren kann?“
Herr Mayer-Schönberger, Sie sind am Zukunftstag 2022 bei uns zu Gast und beschäftigen sich seit Jahrzehnten u. a. mit dem Thema digitale Daten und deren Nutzung. Woran forschen Sie genau und wie lautet Ihre wichtigste Botschaft?
Mir geht es um das große Ganze – also die Frage, wie wir in unserer Welt besser leben können. Die Antwort lautet: Wir leben besser, wenn wir bessere Entscheidungen treffen. Gute Entscheidungen basieren auf Fakten und Informationen aus der Wirklichkeit. Wir kommen also nicht umhin, uns mit den enormen Informationen in unserem Datenzeitalter zu beschäftigen. Nur so können wir aus ihnen Erkenntnisse gewinnen, einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Mehrwert generieren.
Was ist das Problem?
Das Problem ist: Die Daten sind vorhanden, speziell in Europa nutzen wir sie aber nicht. Wir verwenden also viel Zeit, Geld, Energie und Ressourcen darauf, riesige Datenmengen zu sammeln, lagern sie dann aber bildlich gesprochen im Keller und sperren die Tür zu. Laut Studien bleiben 85 Prozent der Informationen ungenutzt, sie werden nicht ein einziges Mal verwendet, um Wissen zu gewinnen. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen! Es ist unglaublich ineffizient, es ist nicht nachhaltig – und es muss sich ändern!
Nennen Sie uns bitte ein Beispiel.
Ich nenne den Flugverkehr: Ein einziger Transatlantikflug sammelt pro Triebwerk mehrere Gigabyte an Daten. Die Sensoren messen Vibration, Temperaturen, Luftwiderstände uvm. Daraus kann man analysieren, wann Teile im Triebwerk wahrscheinlich kaputtgehen werden, noch bevor es passiert. „Predictive maintenance“ heißt das Stichwort: Ich kann Wartungsintervalle planen, Geld sparen und die Luftfahrt sicherer machen. Das funktioniert auch mit Autos und anderen Dingen bis hin zum menschlichen Körper. Die personalisierte Medizin kann vorausschauend erkennen, wann Gesundheitsprobleme auftreten werden und frühzeitig gegensteuern. Vorsorgen ist einmal mehr besser als Bohren, das gilt nicht nur für die Zähne.
Und woran scheitert diese effiziente Datennutzung?
Tom Enders, ehemaliger CEO von Airbus Industries, dem größten Flugzeughersteller der Welt, sagt einmal sinngemäß zu mir: „Ich kann das Thema Daten schon nicht mehr hören! Wir haben solche Unmengen an Daten, dass uns das Haus und der Keller übergehen!“ „Die Informationen nur zu haben, hilft Ihnen aber nichts“, habe ich geantwortet. „Sie müssen damit etwas tun, nämlich aus den Daten heraus Einsichten generieren.“ Darauf sagte er: „Wir haben ja nicht für alles Zeit, wir müssen auch noch Flugzeuge bauen und entwickeln!“ Ich meinte dann, dass er mit mehr und vielseitigeren Erkenntnissen vielleicht noch bessere oder andere Flugzeuge bauen könne, etwas Neues entwickeln! Und wenn er keine Zeit dazu habe, dann solle er wenigstens anderen Zugang zu den Daten verschaffen, damit diese damit etwas Sinnvolles tun.
Haben wir hier einen Denkfehler?
Ja! Der liegt darin, dass zu viele Menschen glauben, Daten seien wie Öl und wir müssten unsere Daten bewahren und schützen. Da ist aber ein großer Irrtum. Daten sind keine physischen Güter, keine Dinge wie Öl oder Ressourcen, die wir einmal verbrauchen und dann sind sie weg. Im Gegenteil. Daten von vielen Unternehmen können zugleich und unzählige Male auf verschiedene Art und Weise genützt werden, ohne dass jemand irgendetwas verliert. Alle, die Zugang zu den Daten haben, erzeugen einen Mehrwert, ohne sich gegenseitig etwas wegzunehmen. Das ist wie bei Musik: Wir zwei können uns beide das gleiche Lied auf Spotify anhören und keiner verliert. Mit Information verhält es sich genauso. Sie ist vielfach teilbar.
Was gibt es also zu tun?
Wir brauchen neue Regeln, eine neue Denkweise, einen neuen Zugang. Wir leiden an einer unglaublichen Rückständigkeit in Europa, wir haben viele Chancen vertan. Nehmen wir das Thema Mobilität bzw. Routenplanung: Kein europäischer App-Anbieter hat auf diesem Markt bisher eine echte Chance, weil Google exklusive Verträge mit vielen öffentlichen Personenverkehrsanbietern abgeschlossen hat und die Daten abzieht. Eine US-Monopolplattform hält alle Fäden in Europa in der Hand. Das ist doch absurd!
Stattdessen haben wir die DSGVO.
Statt einer Datenschutzgrundverordnung brauchen wir eine Datennutz-Grundverordnung auf allen Ebenen vom Individuum bis hin zur Gesellschaft. Wir tragen den Datenschutz wie ein Schild vor uns her und verhindern damit in Wahrheit Innovation. Das betrifft auch viele nicht personenbezogene, also technische Daten. Wenn wir das weiterhin tun, müssen wir uns im Klaren sein, dass wir in Zukunft schlechtere Entscheidungen treffen werden und immens an Innovationskraft verlieren.
Was raten Sie einer Unternehmerin oder einem Unternehmer konkret?
Intelligente Datennutzung fängt innerhalb der Unternehmen an. Ich muss intern schauen, dass alle Beschäftigten die Daten möglichst vielseitig nutzen. In der Praxis sind Betriebe aber oft wie einzelne Silos organisiert: Die Abteilung A kennt die Informationen der Abteilung B nicht und umgekehrt. Und die beiden stellen einander ihre Daten auch nicht zur Verfügung, denn das birgt ja die Gefahr einer Machtverschiebung: Womöglich wäre die andere Abteilung dann stärker als man selbst. Aber dass die gesamte Organisation insgesamt gewinnen könnte, dass es alle voranbringen würde, sehen die einzelnen Akteure nicht oder viel zu wenig. Was geht da alles Wertvolles verloren! Deshalb brauchen wir dieses Umdenken vom den Einzelnen bis zum Kollektiv, dass wir über das Teilen und gemeinsame Nutzen von Daten alle an Einsicht gewinnen. Was nicht bedeutet, dass der Kuchen neu verteilt wird, sondern dass der Kuchen schlicht größer wird. Wäre das nicht das Beste, was uns passieren kann?
Manch ein/e Wirtschaftstreibende/n würde einwenden, sie/er teilt die eigenen Daten nicht mit dem Mitbewerb, weil das wäre der Konkurrenz in die Hände spielen. Was antworten Sie?
Die Daten selbst sind ja nicht innovativ, sondern das, was man damit oder daraus macht. Die Wertschöpfung entsteht in der Analyse, im kreativen Auswerten – und da gibt es viele Ansätze. Wenn alle Zugang zu meinen Daten haben, ist das sogar von Vorteil, denn ich bin plötzlich in einer Wettbewerbssituation und habe einen starken Anreiz die Daten selbst besser nutzen! Wir hätten also alle einen Ansporn, eigene und fremde Informationen nicht zu vernachlässigen, sondern ihr Innovationspotenzial zu heben und sie sinnvoll zu nutzen. Davon profitiert nicht nur der einzelne Betrieb, sondern die Wirtschaft als Ganzes. Wir hätten insgesamt mehr neue Ideen, mehr Innovationen, mehr Fortschritt in der Gesellschaft. Wir alle würden bessere Entscheidungen treffen. Das ist doch etwas Gutes!
Warum fällt es uns offensichtlich so schwer, diesen gemeinsamen Gewinn zu begreifen?
Das frage ich mich auch. Wir haben in Europa in den letzten 300 Jahren deshalb so viel Fortschritte gemacht, weil wir Informationen miteinander geteilt haben. Wir sind im Zuge der Aufklärung zu einer Wissens- und Verständnisgesellschaft geworden. Die einzelnen Einsichten behielten die Menschen nicht für sich, sondern stellten sie auch anderen zur Verfügung. Wäre das nicht der Fall gewesen, säßen wir heute noch in der Steinzeit, weil der/die Nächste nicht wüsste, wie ein simples Werkzeug zu nutzen ist. Wissen zu teilen ist das Geheimnis der Menschheit. Und diese Tugend müssen wir weitertragen.
Dazu kommt der Denkfehler, zu glauben, ich könnte aus meinen Daten selbst alles an Information herausholen. Das ist Hybris. Denn je mehr Menschen Zugang zu Datenanalyse haben, desto mehr Wissen entsteht. Jede/r sieht etwas anderes darin, verfolgt andere Zwecke. Die Informationen aus dem ABS-Bremssystem eines Autos etwa können dem Bremshersteller nützen, dem Reifenproduzenten, der Straßen- bzw. Infrastrukturverwaltung, den Verkehrsverantwortlichen und den Autobesitzern selbst.
Im Gegensatz zu Konzernen haben regionale Klein- und Mittelbetriebe aber oft weder die Daten, noch die Ressourcen für tiefgehende Analyse.
Gerade für den mittelständischen Bereich ist das Zusammenlegen von Daten, deren gemeinsames Bearbeiten und Nutzen essenziell, denn nur dann erreichen sie Skalenökonomien, die sonst nur Großunternehmen vorbehalten bleiben. Datenpools eröffnen dem Mittelstand riesige Chancen. Wir kennen das aus dem landwirtschaftlichen Bereich. Dort hat nützt man seit Hunderten Jahren Maschinenringe und niemand kommt auf die Idee, diese als gefährlich zu bezeichnen, weil der Nachbar nun auch Zugang zu Maschinen hat. Genauso ist es mit Daten. Nicht der Besitz zählt, sondern die Nutzung.
Wir müssen also schleunigst alle Hürden offensiv aus dem Weg räumen. Das fängt bei den uneinheitlichen Datenformaten an. Wenn einer in Fahrenheit misst, der Zweite in Kelvin und der Dritte in Grad Celsius, braucht es einen einheitlichen Standard. Ebay und Amazon geben nur für Standardisierung der Datenformate jeweils 100 Millionen Euro im Jahr aus! Warum so viel? Weil sie nur dann aus unterschiedlichen Quellen einen gemeinsamen Datenbestand aufbauen können. In dem Maße, in dem kleinere Unternehmen das nicht machen, werden sie immer öfter von den Großen an die Wand gespielt werden. Der Handel ist ein gutes Beispiel dafür.
Stichwort Fachkräftemangel – jemand muss die Daten ja auswerten?
Da braucht es neue Ausbildung und entschlossene gemeinsame Anstrengungen. Wenn wir 400 Interessenten für einen Lehrgang haben, müssen wir mehr als nur 30 Ausbildungsplätze schaffen. Auch Menschen die aus der Not heraus zu uns kommen, können wir in diese Bereiche führen. Da ist halt Kreativität gefragt. Und, ganz wichtig ist es, klarzustellen: Wir brauchen nicht die ausgefeilten Informatiker, sondern Menschen die Grundsätzliches verstehen, um aus Daten Informationen herauslesen zu können. Das beginnt ganz simpel mit der statistischen Auswertung einer Excel-Tabelle.
Was kann der Staat tun, um geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen?
Wir müssen große Digitalmonopolisten zwingen, ihre Datenschätze offenzulegen und allen zugänglich zu machen. Das versucht die EU ansatzweise im Data Act oder dem Data Services Act, aber das geht noch viel besser, auch auf nationaler Ebene. Staaten wie die Niederlande, die Schweiz oder Großbritannien pushen in der Gesetzgebung aktiv in diese Richtung. Zudem verfügt die Verwaltung über immense Datenmengen in Registern und Katastern, etwa Grundbuch oder Firmenbuch. Derzeit will der Staat damit Geld verdienen. Seine eigentliche Aufgabe ist es jedoch, der Wirtschaft zu Innovationen verhelfen und die Zugänge offenzulegen. In den USA hat Barack Obama grundsätzlich alle Daten öffentlich zugänglich gemacht. In Österreich haben wir über ein Jahrzehnt später immer noch nichts im Umfang Vergleichbares. Die Veränderungen kommen schneller als wir glauben. Lange nachdenken und tief sinnieren? Dafür haben wir die Zeit nicht.
Wir bitten abschließend herzlich um Ihr „Executive Summary“.
Wir müssen verstehen, dass Daten Chancen eröffnen. Es handelt sich um keinen materiellen Wert. Wir müssen Daten nicht im Keller bunkern, bis der Preis steigt. Daten entfalten ihren Wert nur durch Nutzung. Wenn wir sie teilen, mindern wir ihren Mehrwert nicht, wir multiplizieren ihn.
Herzlichen Dank für das spannende Gespräch.
Viktor Mayer-Schönberger ist Keynote-Speaker am Zukunftstag der steirischen Wirtschaft 2022 in Graz.